Wir werden alle sterben, jeder von uns, was für ein Zirkus! Das alleine sollte uns dazu bringen, uns zu lieben, aber das tut es nicht. Wir werden terrorisiert von Kleinigkeiten, zerfressen von gar nichts.
Charles Bukowski
Als ich fünfzehn war, wechselte ich die Schule. Ich hatte genug von den Spasten aufm Gymnasium. Die Sommerferien hatte ich mit meinen früheren, echten Kumpels verbracht. „Wir“ hatten beschlossen, dass ich nach den Ferien zu ihnen in die Klasse auf die Realschule wechseln würde. Meine Mutter war natürlich alles andere als begeistert: Sie wäre froh gewesen, hätte sie das Zeug fürs Gymnasium gehabt. Meine Mutter denkt bis heute, dass mir alles einfach so zugeflogen kommt. Ja, daran erkennen Sie die wahren Profis: Bei ihnen sieht das immer so leicht aus. Da ich die Schule aber eh schon ne ganze Weile schwänzte – ja, so schlimm war das damals -, hatte sie eh keine andere Wahl.
Und so traf ich Ralf.
Ralf war auch neu. Ralf war vor ein paar Jahren aus Berlin hergezogen. Oh, der Duft der Großstadt. Der großen weiten Welt. Hier in diesem Scheißkaff. Ralf ging zwar nicht in die selbe Klasse wie ich, da wir aber beide am Tag der Einschulung neu waren, mussten wir noch unsere Wahlpflichtkurse (WPKs) wählen. An anderen Schulen nennt man so was „AG“ (Arbeitsgruppe). Da alle anderen Schüler bereits im vorherigen Schuljahr ihre WPKs gewählt hatten, mussten Ralf und ich das nehmen, was halt übrig war und so landeten wir in zwei WPKs, die für „Außenstehende“ auf den ersten Blick etwas „widersprüchlich“ aussehen könnten.
Sagen wir mal so: Wir hatten den Nerd-Kurs (Frauen-Quote: 0,1 %). Und wir hatten den Kreativ-Kurs (Männer-Quote: 0,1 % – Ralf und ich). Ralf und ich waren kreative Nerds. Zufälligerweise entsprach einer der WPKs meinem lebenslangen Traumberuf. Bis heute. Ich konnte mich also glücklich schätzen. Auch wenn Ralf der Bessere von uns war. Eigentlich war das ziemlich unfair, denn sein Talent bedeutete Ralf nichts.
Ralf war das dickste Kind, das ich jemals getroffen hatte. Er redete nicht viel. Und wenn er redete, stotterte er meistens. Er müffelte ein bisschen. Er hatte diesen stechenden Blick. Er hatte dieses gehemmte Lachen. Es war nicht mal ein Lachen. Mehr so ein unkontrolliertes Schnaufen.
Ralf malte gerne: Mit Vorliebe Totenköpfe, denen das Hirn aus der aufgesägten Schädeldecke quillte. Messer durften nicht fehlen. Ein Mädel aus seiner Klasse stand drauf, wie sie mir auf der Abschlussfeier erklärte. Dabei malte Ralf eigentlich gar nicht so wirklich gut. Ich glaub, was das Malen betrifft, war ich der Bessere.
Ralf war ein paar mal auf dem Gymnasium sitzengeblieben, bevor er auf die Realschule wechselte. Er war der erste in meinem Freundeskreis, der Auto fahren durfte. Und Ralf fuhr wie ein Gestörter: Als er mich mal zu Hause abgesetzt hatte, legte er einen Burnout hin, der mich um seine Reifen fürchten ließ. Gefühlt hatte Ralf seine Reifen bis vor seine Haustür durchdrehen lassen.
Eigentlich war Ralf ein astreiner Psycho. Einer der Sorte, von dem man Jahre später in den Nachrichten hören würde, dass er zwanzig Frauen umgebracht hatte: Wenn ich ihn zum Lachen brachte, fing Ralf irgendwann an, mich zu schlagen. Wenn er einem den Ball zuwerfen sollte, warf er einem das Ding grundsätzlich mit voller Wucht ins Gesicht. Mit völlig teilnahmsloser Miene.
Ralf war Senna-Fan. Formel 1 war sein Ding. Der Tod von Senna nahm ihn Jahre danach noch mit. Es war das einzige Mal, dass Ralf so etwas wie eine Gefühlsregung zeigte, als ich ihn auf das Senna-Poster an seiner Zimmertür ansprach.
Als wir mal per PC-Netzwerk ein Autorennen spielten und meine Karre längst an der Startlinie stand, bastelte Ralf mindestens zwanzig Minuten an seinem Auto-Setup rum. Beim Start hängte er mich so was von ab, dabei konnte man doch nichts anderes machen als Gas geben? Scheiße, Ralf: Was war dein Geheimnis?
Ralfs Mutter war Ärztin. Mit eigener Praxis. Viel Zeit schien sie nicht für ihren Sohn zu haben. Ich habe sie nie gesehen. Wenn ich meiner Mutter glauben durfte, war sie noch dicker als Ralf. Dass Ralfs Mutter so dick war, war auch das Einzige, was immer zur Sprache kam, wenn ich Ralf besuchte. „Die Mutter ist doch so dick.“ Keine Ahnung, Mam, ich hab sie nie gesehn.
Ich dürfte der einzige Mensch gewesen sein, der Ralf zu Hause besuchte. Ich dürfte der einzige Mensch gewesen sein, der Zeit mit Ralf verbrachte. Nie werde ich den verdutzten Blick des Großvaters vergessen, als er kurz ins Zimmer kam und da tatsächlich jemanden mit Ralf zusammenhocken sah. Da Ralfs Mutter so schwer beschäftigt war und ich über Ralfs Vater nie irgendwas gehört hatte, wurde Ralf scheinbar von seinen Großeltern großgezogen. Sie schienen ganz nett zu sein – auch wenn ich Ralfs Oma nie zu Gesicht bekam.
Die Freude des Großvaters hielt leider nicht lange an: Damals hab ich noch geraucht und nachdem ich draußen auf Ralfs riesigem Balkon eine geraucht hatte und den Geruch mit mir ins Zimmer trug, wurde der Großvater kurz darauf fuchsteufelswild, als er noch mal reinkam und den Zigarettenqualm roch. Ich hab ihm bestimmt fünf Mal versichert, dass Ralf nicht rauchte – Ralf und rauchen … ich bitte euch: Ralf hasste das Rauchen -, ob er mir glaubte: Ich weiß es nicht. Da war er: Der personifizierte schlechte Einfluss, vor dem Ralf geschützt werden musste! In Form eines Jugendlichen, der draußen auf dem Balkon eine Zigarette geraucht hatte. Ich warne euch: Vorsicht vor dem wahren Leben!
Ich hatte später noch viel mehr schlechten Einfluss auf Ralf: Den Zivildienst verbrachte Ralf mit einem meiner Kumpels. Darum beschlossen wir drei, Silvester (1999?) zusammen zu feiern. Das dürfte das einzige Mal gewesen sein – abgesehen von der Realschul-Abschlussfeier -, dass Ralf Bier trank. Trotzdem habe ich Ralf nie betrunken oder angeduselt gesehen. Bei seinen körperlichen Ausmaßen! Und so wenig wie der trank. Bier schmeckte ihm wohl nicht. Ihm fehlte halt die „Übung“.
Danach verlor man sich aus den Augen: Ralf studierte irgendwo „in der Stadt“.
Dann starb seine Mutter. Meine Mutter erzählte es mir. Sie wusste immer relativ gut über Ralf Bescheid. Keine Ahnung, woher.
Und dann starb Ralf.
Wieder war es meine Mutter, die es mir erzählte: Ralf fuhr nebenbei Taxi, um sich Geld fürs Studium zu verdienen. Er war mit seinem Taxi bei Glatteis von der Straße abgekommen, in einen Kanal gefallen und anschließend ertrunken. Ich hörte kurz die quietschenden Reifen, mit denen mich Ralf zu Hause abgesetzt hatte. Damals. Einige Jahre zuvor.
Es war nur ein Gerücht, das mit dem Ertrinken. Für mich machte es Sinn. Um ehrlich zu sein: Ich wunderte mich kein bisschen. Es passte zu Ralf.
Ralf war „der Erste“: Wenn man erwachsen wird, gibt es immer einen, der „der Erste“ ist: Der Erste, der abtritt. Der Erste, der Kinder kriegt. Der Erste, der heiratet. Der Erste, der sich scheiden lässt. Der Erste, der sich sterilisieren lässt. Der Erste, der wegzieht.
Der nächste Tag war seltsam: Die Sonne schien etwas heller als sonst, der Himmel war etwas blauer und für mich war es einfach nur ein Tag, den Ralf nicht mehr erlebte. Ein Tag, den ich ohne Ralf lebte. So geht es mir heute noch: Wenn Leute sterben, ist die Welt eine andere. Man lebt jetzt ohne diese Menschen. Man lebt die Tage, die diese Menschen nicht mehr erleben. Man „darf“ die Tage erleben, die diese Menschen nicht mehr erleben. Man denkt an das Schicksal: Welche Tage sind vorherbestimmt, von uns erlebt zu werden? Welche nicht mehr? Was würde sich ändern, wenn wir es wüssten? Was können wir lernen?
Ich schätze: Nichts. Wir können bloß weiterleben. Es gibt keine „Moral von der Geschicht'“, denn ich wüsste nicht, was wir von Ralf lernen könnten. Von seinem sinnlosen Tod. Seinem sinnlosen Leben?